Alfred von Thun und die Leichtigkeit der Athletik
Von Gunnar von der Geest
1924, sechs Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, bekamen die Deutschen neues Geld in die Hand. Die Reichsmark, anstelle der Papiermark, die durch die Hyperinflation immer weniger wert geworden war. Der damals knapp 18-jährige Alfred von Thun wusste genau, für welches Objekt der Begierde er seine ersten gesparten Reichstaler ausgeben wollte: Ein paar Rennschuhe in bester Ausführung, ganz aus schwarzem Rindsleder und mit besonders kräftigen Stahldornen, sollten es sein. Der stolze Preis: 12 Reichsmark.
Die Investition des Sohns des bekannten Niendorfer Strandfotografen Otto von Thun hat sich bezahlt gemacht. In den folgenden Jahren avancierte Alfred von Thun zu einem der erfolgreichsten Leichtathleten im norddeutschen Raum, der vor allem durch seine brillante Technik zu beeindrucken wusste. Außerdem ließ er, was in Zeiten wachsenden Körperkultes und wiederentdeckter Naturverbundenheit nicht untypisch war, die Öffentlichkeit gern an seinem gestählten und gebräunten Körper teilhaben. Mann zeigte viel Haut.
Allein bis 1933 schaffte Alfred von Thun, nachzulesen in seinem akribisch mit schwarzer Tinte geführten Wettkampfbuch, rund 200 Mal den Sprung aufs Siegerpodest, mehr als 100 Goldmedaillen sind aufgelistet. Die Leistungen ringen Leichtathletik-Experten auch heute noch viel Respekt ab, zumal sie allenfalls mit der unterstützenden Wirkung von zartbitterer Schokolade oder gedecktem Apfelkuchen erzielt worden sind. Die 100 Meter legte Alfred von Thun 1927 in 11,2 Sekunden zurück. Seinen persönlichen Weitsprung-Rekord von 6,60 Metern schaffte er 1930.
Überaus beachtenswert sind vor allem die 1,80 Meter im Hochsprung, erzielt beim Stiftungsfest der Niendorfer Turnerschaft am 18. September 1938. Bereits zwölf Jahre zuvor hatte Alfred von Thun erstmals im sogenannten Tauchroller 1,70 Meter überquert. „Wie gern hätte auch ich damals eine 50 Zentimeter dicke Schaumstoffmatte unterm Po gehabt“, erklärte Alfred von Thun später seinen Enkeln lächelnd, wenn sie gemeinsam große Leichtathletik-Ereignisse vor dem TV-Gerät verfolgten. Die Athleten zu seiner Zeit sprangen nämlich in die Sandgrube sowohl weit als auch hoch. Im günstigsten Fall war der grobkörnige Quarzsand immerhin zuvor etwas aufgelockert worden. „Wir mussten beim Absprung nicht nur ans Überqueren der Latte, sondern zugleich auch an die unbequeme Landung denken“, berichtete er. Und so war Alfred von Thun besonders stolz darauf, sich während seiner Karriere nie das Handgelenk gebrochen zu haben…
Das Wettkampfprogramm der Leichtathleten, die in der Regel auch noch passionierte Fußballer, Turner, Schwimmer und Eisläufer waren, hatte neben den auch heute noch gängigen Disziplinen solche zu bieten, die längst in Vergessenheit geraten sind, so etwa den Schleuderball- und Keulenweitwurf, das Kugelschocken sowie der für das Publikum spektakuläre Stabweitsprung. Hier brachte es Alfred von Thun auf eine Weite von 11,70 Metern.
Ein Blick in sein Sportabzeichenheft macht deutlich, dass Anfang der 1930er Jahre die Wehrhaftmachung der deutschen Männer mehr und mehr Einzug in den Turn- und Sportbetrieb hielt: So gehörte ein 25 Kilometer langer Dauermarsch mit 12,5 Kilogramm Gepäck zur Pflichtaufgabe, wollte man die Auszeichnung des Deutschen Reichsausschusses für Leibesübungen erhalten. Zwei „Sportzeugen“, wie diese offiziell genannt wurden, bestätigten mit ihrer Unterschrift, dass Alfred von Thun die Tort(o)ur entlang der Ostseeküste am 6. Oktober 1932 in 3:13 Stunden erfolgreich absolviert hat.
Ansonsten waren einige Kampfrichter zu dieser Zeit offensichtlich mehr für ihr „lokalpatriotisches Auge“ als für Objektivität bekannt. Immerhin ging es ja auch um etwas beim Wettstreit mit den „Rivalen der Rennbahn“ aus der Nachbargemeinde. Und so hing denn das Maßband manchmal wohl etwas mehr durch, wenn der eigene Vereinskamerad gerade in die Grube gehüpft war oder die Kugel gestoßen hatte. Symptomatisch für den zuweilen recht lockeren Umgang mit dem Begriff „Fair Play“ sind die Verse eines Spottliedes, das damals die Runde machte: „Schieber gibt’s, ich will’s gesteh’n, viel auf dem Planeten. Doch die meisten kann man seh’n – unter Leichtathleten.“
Den größten überregionalen Erfolg errang Alfred von Thun beim 15. Deutschen Turnfest 1933 in Stuttgart. Im Fünfkampf belegte er den 21. Platz. Insgesamt nahmen an dem ersten Turnfest, das unter Regie der Nationalsozialisten als straff organisiertes Massenspektakulum ablief, rund 600.000 Athleten teil.
Bei seiner Rückkehr wurde Alfred von Thun, inzwischen Hauptsekretär der Lübeck-Büchener Eisenbahn, auf dem Niendorfer Bahnhof gebührend empfangen. Und es wurde anschließend eifrigst im Ort getuschelt, dass der zu jedem Spaß aufgelegte Bahnbeamte feiernd im Speisewagen gesichtet worden sei – mit Frieda Schomaker, Niendorferin und Mitglied in der Niendorfer Turnerschaft. Die Gerüchteküche brodelte zu Recht. 1935 heirateten die beiden und bekamen in der Folge dreimal Nachwuchs: Margot (1936-1989), Klaus (geb. 1937) und Reiner (geb. 1941).
Die fünfköpfige Familie zog nach Hamburg-Rahlstedt und wurde dort im Juli 1943 ausgebombt. Neben rund 300 Einmachgläsern, die in der Gluthitze quasi wie „Vitaminbomben“ mit lautem Knall zerplatzten, fielen zahlreiche Sporttrophäen dem Feuersturm zum Opfer. Alfred von Thun brachte Frau und Kinder zu Verwandten nach Niendorf und nahm sich selbst bis 1950 in der Nähe des Rahlstedter Bahnhofs eine kleine Wohnung inklusive Gartenanschluss. Dort werkelte der dreifache Vater nach der Arbeit als Biobauer und sendete die gesunde Fracht per Bahn nach Niendorf. Im Gegenzug ließ er sich gern per Express ein Care-Paket mit Räucher-Aal und Rollmops an seinen Arbeitsplatz bei der Rahlstedter Güterabfertigung liefern.
Seit den 30er Jahren pflegte der Allroundsportler eine Passion, die für einen „Strandjungen“ äußerst ungewöhnlich war: Mit einem Freund aus München unternahm er mehrtägige Wander- und Skitouren durch die Alpen, bevorzugt rund um die Gebirgszüge von Hopfgarten (Österreich). Sein erstes Paar Ski hatte er übrigens von einem Niendorfer Tischler anfertigen lassen, der ob des ungewöhnlichen Auftrages seinen Kunden um eine kleine Baubeschreibung bitten musste. Autodidakt Alfred von Thun, der unzählige Sportfachartikel aus Zeitschriften zu archivieren pflegte, konnte dem zunächst ratlosen „Mann vom Meer“ helfen…
Noch bis ins hohe Alter war der fürsorgliche Vater und Großvater voller Bewegungsdrang. Nach seiner Laufbahn im Schienenverkehr arbeitete der pensionierte Beamte beim Verein Hamburger Spediteure als Tarifexperte. Die Sonnabende verbrachte er vorzugsweise in den Gärten der feinen Rahlstedter Gesellschaft, um deren Hecken und Halme akkurat in Form zu bringen. Am meisten Freude brachte es ihm jedoch, die Familie auf seinem Freifahrtschein zu Tagestouren nach Niendorf an die Ostsee einzuladen. Eine Wassertemperatur von 17 Grad empfand der rüstige Senior zum Erstaunen seines Umfeldes stets als „herrlich warm“. Erst eine Parkinsonerkrankung zwang ihn, von der aktiven auf die passive Seite zu wechseln. Neben Sport im TV verfolgte er dabei besonders aufmerksam die Tenniskarriere seines Sohnes Reiner. Der heute 66-Jährige wurde u. a. mehrfach Landesmeister in Schleswig-Holstein und schlägt bis heute ähnlich ästhetisch den gelben Filzball übers Netz wie sein Vater die Hochsprunglatte zu überwinden wusste. Alfred von Thun starb am 25. Oktober 1990 im Alter von 83 Jahren in einem Rahlstedter Seniorenheim. Viele schöne Erinnerungen und außergewöhnliche Dokumente sind den Nachfahren geblieben.
Gunnar von der Geest, der Autor des Artikels, ist einer der Enkel von Alfred von Thun, lebt mit seiner Familie in Hamburg und verantwortet in der Pressestelle der Beiersdorf AG den Bereich „Forschung und Entwicklung“.